Ngak’chang Rinpoche

interviewt von Ngakma Shardröl Wangmo zum Thema des Dzogchen

6. Juni 1994 in Llanilltud Fawr.

Q Rinpoche, das erste, worüber ich etwas fragen will, betrifft die Terminologie. Die Begriffe „Dzogchen“ und „Ati Yoga“ scheinen austauschbar verwendet zu werden. Bedeutet der Gebrauch des einen oder des anderen Begriffs, dass man sich dem Thema von unterschiedlichen Blickrichtungen nähert?

R Nein, nicht unbedingt. „Dzogchen“ ist zur Zeit ein bisschen eine Art Modewort – jeder scheint Dzogchen haben zu wollen ohne bereit zu sein, irgendeine Art Vorbereitung dafür zu machen. Dies ist eine Abwandlung der Aussage: „Ich weiß, was ich will, und ich weiß, wie ich es bekomme“. So, als würde man sagen: „Ich weiß nicht, was ich will, aber ich will es jetzt.“ Ebenso hat man begonnen, den Begriff „Dzogchen“ zu verwenden, als ob damit ein Strom von Lehren außerhalb des Nyingma- oder Bön-Systems in Tibet gemeint wäre. Manche denken, dass Dzogchen etwas sei, das außerhalb und jenseits von Buddhismus und Bönpo sei; aber historisch ist dies vollständiger Quatsch. Es ist falsch, Dzogchen als vom Buddhismus oder Bön getrennt zu begreifen, so wie es keinen Sinn macht, über Zen zu sprechen, als wäre es etwas anderes als Buddhismus. Zen ist Buddhismus. Zen ist nicht getrennt vom Buddhismus.

Innerhalb des Buddhismus ist Dzogchen ein Fahrzeug der Nyingma Schule. Es ist das neunte Fahrzeug und es kann nicht von der Nyingma School oder der Linie, die auf Garab Dorje zurück geht, getrennt werden. Ich sollte gleich hinzufügen, dass dies nicht heißt, dass die Nyingmapas Dzogchen besitzen. Noch bedeutet es, dass die Bönpos es besitzen. Jeder aus jeder Schule kann Dzogchen praktizieren. Es gab viele Lamas in allen Schulen, die Dzogchen praktiziert haben; tatsächlich sind einige Dala’i Lamas Dzogchen Meister gewesen, so wie der Große Fünfte Dala’i Lama. Aber wenn du den Ursprung der Dzogchenlehren besprechen willst – er kommt von den Nyingma Linien. Er kommt auch von den Bönpos.

Q Also ist das Dzogchen das neunte Fahrzeug des Nyingma-Systems. Ist Dzogchen auch im Bön ein Fahrzeug oder wie wird es dort klassifiziert?

R Es ist das neunte Fahrzeug des Bön. Die neun Fahrzeuge des Bön-Systems sind in mancher Hinsicht den neun Fahrzeugen des Nyingma-Systems ähnlich, aber nur im inneren Tantra; ihre anderen Fahrzeuge sind verschieden. Die Fahrzeuge des Bön-Systems sind schamanische Fahrzeuge, aber ich bin nicht qualifiziert, darüber detailliertzu sprechen – ich bin kein Bönpo.

Q Was ist deine Sicht des Bön?

R Ich habe den größten Respekt für die Bön-Lehren, es ist nur so, dass ich nicht über die Struktur der Fahrzeuge informiert bin, die mit dem Sutra und dem äußeren Tantra gleichgesetzt werden könnten. Ich habe Bön-Belehrungen auf der Ebene des Dzogchen Trek-chod und Dzogchen Togal erhalten und finde sie völlig übereinstimmend mit den Lehren des Buddhismus.

Q Woher kommt die Auffassung, dass über Dzogchen als etwas Eigenständiges gesprochen werden könnte?

R Die Idee kommt von der Dzogchen-Sicht der buddhistischen Lehren. Aus der Dzogchen-Sicht würden wir nicht von den neun Fahrzeugen sprechen sondern von drei Fahrzeugen. Damit sind nicht Hinayana, Mahayana und Vajrayana gemeint; sondern Sutra, Tantra und Dzogchen. Dies ist so, weil Dzogchen die Fahrzeuge so betrachtet, wie sie zu den drei Sphären des Seins in Beziehung stehen. Es gibt eine Menge Verwirrung um die verschiedenen Sichtweisen, wie die Fahrzeuge kategorisiert werden. Die Fahrzeuge werden auf verschiedene Weise unterteilt, abhängig von der jeweiligen Schule des tibetischen Buddhismus. Die vorherrschende Weise, die Fahrzeuge zu unterteilen, verwendet die Kategorien von Hinayana, Mahayana und Vajrayana. Dies gilt besonders für die tibetischen Schulen des Buddhismus. Hinayana ist zur Zeit kein Strom des Buddhismus, welcher von irgendjemandem als solcher praktiziert wird; es ist bloß ein philosophisches Konstrukt. Hinayana existiert nur entsprechend der tibetischen Analyse der Rangfolge der Buddhistischen Lehren. Dieses Hinayana-Konstrukt bezieht sich eher auf die Kapazität von Individuen, als auf eine Hinayana-Schule.

Q Was bedeutet es, dass Hinayana kein Zweig buddhistischer Praxis ist?

R Nun, niemand praktiziert Hinayana.

Q Ich dachte, dass es in Thailand und Südostasien praktiziert würde?

R Nein, überhaupt nicht. Hinayana bedeutet „niedrigeres Fahrzeug“ und betrifft die anfänglichen Antriebe und Wahrnehmungen, die eine Person in einen Zustand bringen, in dem liebende Freundlichkeit zur hauptsächlichen Motivationskraft wird. Was in diesen Ländern praktiziert wird, wird Theravada genannt. Man sollte niemals Theravada mit Hinayana verwechseln. Niemand praktiziert Hinayana. Es wird als eine Form des Buddhismus angesehen, als eine Anfangsstufe des Pfades, womit das gemeint ist, was eine Person dazu veranlasst, die eigene Situation zu hinterfragen. Aber niemand praktiziert es.

Q Wie sieht die Nyingma-Schule das Hinayana?

R In der Nyingma Schule wird vom Hinayana in zweifacher Hinsicht gesprochen, als Shravakabuddhayana und Pratyekabuddhayana. Das Shravakabuddhayana ist das ‘Fahrzeug der Hörer“. Es ist ein brauchbares Konzept, weil ein „Hörer“ jemand ist, der etwas hört und es weitergibt. Sie haben es nicht verwirklicht, aber sie sind davon beeindruckt – sie sehen es als eine Philosophie. Interessant genug, das gilt für viele Leute im Westen heute. Leute hören Belehrungen und wenn sie genug gehört haben, geben sie Workshops darüber [lacht]. Dies könnte vielleicht in einem sehr, sehr primitiven Sinn so etwas wie das Shravakabuddhayana sein.

Dann gibt es Pratyekabuddhayana. Das Pratyekabuddhayana bedeutet das Fahrzeug des „einsamen Verwirklichers“. Das ist jemand, der sagt: „Ich bin auf meine eigene Erleuchtung ausgerichtet“. Dies ist ein Unterschied zum Bodhisattvabuddhayana—oder Mahayana-Praktizierenden, der an die Erleuchtung aller Wesen als die fundamentale Motivation für die Praxis denkt. Der Mahayana-Praktizierende bemüht sich, Boddhicitta zu entwickeln, die Dynamik von aktivem Mitgefühl. Shravakabuddhayana und Pratyekabuddhayana sind Hinayana-Fahrzeuge und Bodhisattvabuddhayana ist das Mahayana-Fahrzeug.

Q Gibt es Praktizierende von Shravakabuddhayana und Pratyekabuddhayana?

R [lacht] Nicht offiziell. Niemand praktiziert heutzutage Shravakabuddhayana und Pratyekabuddhayana in Tibet oder anderswo. Einfach, weil alle Buddhisten die Entwicklung von liebender Freundlichkeit gegenüber anderen Wesen als Priorität ansehen, ob sie sich nun als Mahayana—oder Theravada-Praktizierende betrachten. Shravakabuddhayana und Pratyekabuddhayana existieren bloß als Konstrukte, die bestimmte Verstehensweisen der Lehren von Shakyamuni Buddha beschreiben.

Q Worin, würdest du also sagen, besteht der Sinn, etwas über Shravakabuddhayana und Pratyekabuddhayana zu wissen?

R Nun, es ist wichtig, ein Gefühl dafür zu haben, wie man sich gemäß dieser Stile an die anderen Fahrzeuges annähern kann. Zum Beispiel habe ich festgestellt, dass viele Leute sich Dzogchen im Stil des Shravakabuddhayana oder Pratyekabuddhayana annähern – und wenn sie dies tun, praktizieren sie natürlich nicht wirklich Dzogchen. Wenn du Dzogchen bloß für deine eigene Verwirklichung praktizierst, dann ist das, was du praktizierst, überhaupt nicht Dzogchen – es wird Pratyekabuddhayana mit „Dzogchen“-Ansprüchen oder Pratyekabuddhayana mit der äußeren Form des Dzogchen genannt. Auch wenn jemand einfach Dzogchen studiert ohne zu praktizieren und dann diese Lehren an andere weitergibt, ist das Shravakabuddhayana mit einem illusionären Anstrich von Dzogchen-Theorie. Hier ist wichtig, dass es nicht die Form der Praxis ist, die den Praktizierenden definiert – es ist die Motivation.

Q Ist es dann möglich, so zu tun als würde man praktizieren, aber davon unberührt bleiben?

R Sicher. Das ist ein sehr, sehr großes Problem für jeden, der einer Religion folgt. Man kann den Eindruck erwecken, alles „buchstabengetreu“ zu tun und dann überhaupt nirgendwohin gelangen. Manche wissen viel über die Lehren und praktizieren viel, aber das muss nichts heißen.

Q Könnte so jemand rückwärts gehen oder sich mehr vormachen, als man es sonst getan hätte?

R Ja. Das ist eine sehr reale Gefahr. Das ist speziell im Zusammenhang von Tantra und Dzogchen eine Gefahr. Es gibt viele Geschichten in der tibetischen Tradition der Yogis – lustig, dass es immer Männer sind, nicht wahr – die die „schwarze Freiheit“ erreichen bzw.Rudra; einen Zustand von intensiver, zumeist einseitig ausgerichteter Egomanie. Aber du findest diese Beispiele nicht nur in Überlieferungen oder in der Geschichte Tibets und Indien; du kannst auch heute Beispiele für „Meister“ der schwarzen Freiheit finden, auch im Westen.

Q In der tibetischen Tradition?

R Traurigerweise ja.

Q Bei Westlern?

R Ja. Unter Westlern und unter Tibetern. Es ist wirklich sehr traurig, aber das passiert in jedem religiösen System. Es passiert überall dort, wo es Menschen gibt. Ich meine, dass es sehr wichtig ist, Freundlichkeit zu betonen, insbesondere wenn jemand an Tantra oder den Dzogchen-Lehren interessiert ist. Wenn sich jemand nicht wirklich mit einem Gefühl von Freundlichkeit mit anderen verbinden kann, dann können die Lehren, die einen nicht-dualen Ansatz betonen, in eine Methode zur Kultivierung von „heiliger“ Menschenfeindlichkeit verkehrt werden.

Q Verhält es sich so, dass Boddhicitta organisch mit Erleuchtung verbunden ist und man Erleuchtung nicht als Einzelner erreichen kann, der nicht mit allen Wesen verbunden ist?

R Ja, insbesondere aus der Dzogchen-Perspektive, in welcher Bodhicitta oder Chang-chub-sem die Energie des erleuchteten Zustandes ist. Aber es ist nicht möglich, getrennt von anderen Wesen zu sein. Wenn du praktizierst, dann manifestiert sich Chang-chub-sem natürlicherweise; es ist jedem Wesen innewohnend.

Q Ich habe gehört, dass die Fahrzeuge in den einzelnen Schulen unterschiedlich eingeteilt werden.

R Ja, das ist wahr. Im allgemeinen wirst du im Westen alle über Hinayana, Mahayana, und Vajrayana reden hören. Wir haben Hinayana und Mahayana ja besprochen und alle Schulen des tibetischen Buddhismus stimmen darin überein, dass dies eigene Fahrzeuge sind. Wenn es aber um Vajrayana geht, ist es nicht so klar festgelegt. In der Gelug-Schule zum Beispiel spricht man von Tantra oder Vajrayana als Teil des Mahayana-Fahrzeugs. Dort wird Mahayana mit den Begriffen des exoterischen und esoterischen Mahayana beschrieben. Von diesem Blickwinkel aus gibt es also nur zwei Fahrzeuge: Hinayana und Mahayana – wobei Mahayana in einen exoterischen und einen esoterischen Zweig unterteilt wird. Das esoterische Mahayana ist Tantra.

Q Kannst du definieren, was ein Fahrzeug ist?

R Ein Fahrzeug, thegpa oder yana, muss drei Aspekte haben. Es muss eine Basis, einen Pfad und eine Frucht haben. Es gibt manchmal lebhafte Diskussionen innerhalb der verschiedenen tibetischen buddhistischen Schulen darüber, welche Lehrinhalte ein Fahrzeug bilden können. Diejenigen, die sagen, dass es zwei Fahrzeuge gibt, Hinayana und Mahayana (Mahayana in exoterische und esoterische Zweige unterteilt), bringen damit zum Ausdruck, dass Tantra kein separates Fahrzeug mit eigener Basis, Pfad und Frucht ist. Aus dieser Feststellung folgt, dass man Tantra nicht praktizieren kann ohne zuerst Sutra praktiziert zu haben. Das wäre von diesem Blickwinkel aus der Fall, weil Tantra der Status abgesprochen wird, eine eigene, separate und einzigartige Basis zu haben, aus der ein Pfad entstehen könnte. Aus dieser Sicht müsste eine Erfahrungsebene erreicht werden, bevor man Tantra praktizieren könnte; es wäre jedoch klar, dass man diese Ebene nicht erreichen kann, ohne Sutra praktiziert zu haben. Dieser Sichtweise entsprechend ist Sutra die Basis von Mahayana-Praktiken, die als „Tantra“ bezeichnete esoterische Mahayana-Praktiken einschließen. Diese esoterischen Mahayana-Praktiken werden nach erheblicher Praxis der exoterischen Mahayana-Praktiken erreicht. Ein anderer Aspekt dieser Sichtweise wäre, dass Sutra- und Tantra-Übungen sich nicht widersprechen würden, insbesondere auf der äußeren Ebene.

Aber wenn du den Buddhismus in die drei Yanas des Hinayana, Mahayana und Vajrayana unterteilst, machst du implizit die Feststellung, dass du mit Vajrayana beginnen kannst. Wenn bestimmte Lehren und Praktiken als Fahrzeug beschrieben werden können, wird damit anerkannt, dass sie ihre eigene Basis und einen Pfad haben. Und wenn es eine Basis gibt, kannst du mit ihr beginnen. Mit allem, was als Fahrzeug beschrieben wird, sollte man einsteigen können. In dem Moment, wo man feststellt, Tantra ist ein Fahrzeug, sollte man auch damit beginnen können oder die Idee der Fahrzeuge ist hinfällig. Es ist unmöglich zu sagen: „Tantra ist ein Fahrzeug, aber du kannst nicht damit beginnen“. Entweder ist es also ein Fahrzeug und du kannst damit beginnen, oder es ist kein Fahrzeug und dann kannst du nicht damit beginnen.

Q Also ist dies die Lösung der Kontroverse aus den Lehrbüchern, wo es Lamas gibt, die sagen, dass Dzogchen für jeden ist, der es praktizieren will, und Lamas, die sagen, dass Dzogchen eine Praxis für sehr fortgeschrittene Praktizierende ist. Das ist für viele ein Problem, da dies vollkommen widersprüchlich zu sein scheint, aber du sagst, dass es eine klare Lösung dafür gibt?

R Ja. Genau. Genau das Gleiche kann auf Tantra und Dzogchen angewendet werden. Dzogchen kann als eigenständiges Fahrzeug angesehen werden oder als die innerste Praxis des Tantra. Es gibt immer Widersprüche, wenn du die Sichtweisen der verschiedenen Fahrzeuge vergleichst, aber jede Sicht ist letztlich innerhalb ihres eigenen Funktionsmodus gültig. Jede Sicht ist nützlich für die, für die diese Sicht nützlich ist. Es gibt da kein Richtig oder Falsch, bezogen auf die verschiedenen Sichtweisen der verschiedenen Fahrzeuge – es gibt nur verschiedene Sichtweisen. Es gibt verschiedene Sichtweisen, die für unterschiedliche Menschen gut sind entsprechend ihren Erfahrungen und ihren karmischen Verbindungen.

Für manche Menschen könnte es sehr schädlich sein, Tantra zu praktizieren. Für sie ist es wichtig, Sutra zu praktizieren. Für andere ist es sinnvoll, dass sie Tantra oder Dzogchen praktizieren. Aber für jeden, der Tantra oder Dzogchen praktiziert, ist es wichtig, dass er offen für die Praxis aller buddhistischen Fahrzeuge ist entsprechend den Anweisungen des Wurzellehrers.

Q Wenn ein Fahrzeug seine eigene Basis, Pfad und Frucht hat und wenn die Frucht immer die Gleiche ist – warum würde irgendjemand zuerst Sutra praktizieren und dann Tantra? Warum würden sie nicht einfach das Ganze übergehen und im sutrischen Zusammenhang erleuchtet werden? Warum würden sie auf ein anderes Fahrzeug übergehen? Warum würden sie nicht denken, sie seien fertig, wenn sie die Frucht des Sutra erreichen?

R Fahrzeuge werden nicht notwendigerweise praktiziert, bis die Frucht verwirklicht wird. Wenn es darum geht, alle Fahrzeuge zu durchlaufen, braucht man ein Fahrzeug nur so lange zu praktizieren, bis man einen günstigen Punkt erreicht, an dem man sich dem nächsten Fahrzeug annähern kann. Klar, wenn jemand einem Fahrzeug bis zur Verwirklichung folgt, gäbe es keinen Grund, sich nach einem anderen Fahrzeug umzusehen. Aber es kommt eine Zeit, wenn du gut genug Rollschuh fahren kannst, um auf ein Fahrrad umzusteigen. Man muss nicht der Rollschuh-Weltmeister sein, bevor man sich nach einem Fahrrad umsieht. Man kann ein geschickter Rollschuhfahrer sein und dann ein Fahrrad ausprobieren. Man kann Fahrrad fahren lernen, aber man muss nicht die Tour de France gewinnen, bevor man sich ein Motorrad anschafft. Das theoretische Annahme, wonach man jedes Fahrzeug vor dem Übergang zum nächsten abschließen muss, ist ein wenig zu gradlinig, es ist ein wenig zu geordnet, um sich auf tatsächliche Lebenserfahrungen zu beziehen.

Buddhismus ist eigentlich sehr pragmatisch. Buddhismus ist kein Überbau der Realität. Es ist keine konstruierte Philosophie, die menschliche Wesen dazu bringt, strengen Anordnungen folgend vorzugehen, und die die Verschiedenartigkeit von Erfahrung ignoriert. Um den Yanas zu folgen, muss man einfach „etwas“ Geschmack vom Ziel bekommen – du musst einen geeigneten Punkt zum Absprung in das Paradigma des nachfolgenden Fahrzeugs erreichen. Du musst den Fahrtüchtigkeitstest des Sutra durchlaufen, bevor die Harley Davidson des Tantra [lacht] oder die Vincent Black Lightning des Ati-yoga bestiegen werden können. Du musst einfach fähig sein, aus der Erfahrung heraus ein anderes Fahrzeug zu verstehen.

Dies kann man auf zwei Arten betrachten. Es gibt die „strukturelle, theoretische Sichtweise“, und es gibt die „pragmatische, auf Erfahrung beruhende Sichtweise“. Pragmatisch gesehen kann man beginnen, ein Fahrzeug zu praktizieren, sobald man die Erfahrung seiner Basis hat. Um zur Basis des Tantra zu gelangen, muss man die Erfahrung von Leerheit gemacht haben. Leerheit zu erfahren bedeutet nicht notwendigerweise, dass du eine vollständige Erfahrung vonden Begriff Leerheit hast, man muss nur genug Erfahrungen gemacht haben, damit sich die Sicht der Realität verändert. Das bedeutet nicht, dass man jedes Mal den Leerheitszustand ereicht, wenn man sitzt…

Q Wie würden die verschiedenen Schulen das sich Bewegen in den verschiedenen Fahrzeugen betrachten?

R Die verschiedenen Schulen haben verschiedene Auffassungen, welche Aspekte des Buddhismus als Fahrzeuge betrachtet werden können. In einigen Teilen der Nyingma-Schule gibt es eine Auseinandersetzung darüber, ob Dzogchen ein tantrisches Fahrzeug ist oder ob es für sich allein existiert.

Q Wenn also jemand den Begriff „Ati Yoga“ benutzt, dann impliziert dieser Begriff, dass Dzogchen das höchste Fahrzeug des inneren Tantra ist?

R Es ist möglich, das zu schlussfolgern… aber tatsächlich sind die Begriffe „Ati Yoga“ und „Dzogchen“ synonym.

Q Dann gibt es Rig’dzin Chögyam Trungpa Rinpoches Begriff „Maha Ati“, den man nirgendwo sonst findet… Was meinte er damit?

R Trungpa Rinpoche prägte den Begriff „Maha Ati“, um von Mahamudra und Maha Ati innerhalb eines vergleichbaren Kontextes zu sprechen. Wie auch immer, ich glaube nicht, dass irgendjemand sonst diesen Begriff benutzt. Das macht ihn nicht richtig oder falsch; es ist nur ein anderer Weg, Sprache zu verwenden. Man muss flexibel sein, weißt du [lacht]. Jedenfalls… wenn man Ati Yoga als den Gipfel des Tantra betrachtet, dann muss man natürlich zuerst die anderen Stufen des Tantra praktizieren. Aber wenn Dzogchen ein Fahrzeug ist, dann kann man mit Dzogchen beginnen – wenn der Lehrer von dieser Basis ausgeht. Dabei gibt es kein richtig oder falsch, es ist einfach die Frage, ob man Dzogchen als ein Fahrzeug ansiehst oder nicht. Wenn man es als ein Fahrzeug betrachtet, kann man damit beginnen. Wenn man es nicht als Fahrzeug betrachtet, dann muss man sich allmählich durch das Tantra arbeiten, bis man zum Dzogchen kommt.

Ich denke, es ist sehr wichtig, daran zu erinnern, dass jedes Fahrzeug ein Ngöndro beinhaltet. Dies ist die Methode, mit welcher die Basis eines Fahrzeugs erreicht werden kann. Also ist das tantrische Ngöndro (die Niederwerfungen mit Zuflucht und Chan-chub-sem, das Khyil-khor-Opfer, die Dorsem-Rezitationen und das Lama’i Naljor) die Methode, um die Basis von Tantra zu erreichen. Statt durch Sutra hindurchzugehen, um an die Basis von Tantra zu gelangen, kann man mit Tantra beginnen. Um Tantra zu praktizieren, muss man die Basis von Tantra erreichen, wenn man sich also nicht an der Basis von Tantra befindet, praktiziert man das tantrische Ngöndro, um an die Basis von Tantra zu gelangen. Bezogen auf Dzogchen würde man die vier Naljor üben, um so an die Basis von Dzogchen zu gelangen. Und deswegen betone ich die vier Naljor so sehr. Die Hauptperspektive, von der ich lehre, stammt aus dem Dzogchen. Dzogchen ist die Sichtweise des Aro gTér, daher sind die vier Naljor so wichtig.

Q Es ist interessant, dass das tantrische Ngöndro, das einen zur Basis des Tantra bringt, aus Übungen mit tantrischer Prägung besteht. Und das Ngöndro des Dzogchen, das einen zur Basis des Dzogchen führt, besteht aus Praktiken im Dzogchenstil. Wie ist es technisch möglich, diese Praktiken zu machen, die einen zu der Stufe bringen, wo man diese Praktiken machen kann – wenn sie den Praktiken, deren Ngöndro sie sind, so ähneln?

R Nun, betrachten wir zum Beispiel Shi-né. Obwohl es auf eine nichtduale Weise innerhalb der vier Naljor praktiziert wird, ist Shi-né auch eine sutrische Praxis. Gemäß dem Aro gTér, der dem Dzogchen Sem-dé sehr viel Gewicht beimisst, erscheint das „Shi-né mit Form“ als das erste der vier Naljor. Das ermöglicht es jedem, mit Shi-né zu beginnen. Dabei wird erwartet, dass man ziemlich schnell durch die Stufen des Shi-né fortschreitet. Damit will ich sagen, dass es innerhalb der vier Naljor die Erwartung gibt, dass so etwas möglich ist. Dabei wird vorausgesetzt, dass jemand die karmische Verbindung hat, diesen Lehren zu begegnen und das Interesse, sie zu praktizieren. Diese Lehren werden auch mit der Übertragung von Dzogchen Sem-dé gegeben, was eine enorme Inspiration für die Vollendung der Praxis vermittelt. Diese inspirierende Qualität existiert auch innerhalb des tantrischen Ngöndro, um den Praktizierenden dahin zu bringen, sich mühelos und zügig durch die Erfahrungen zu bewegen, die ihn oder sie auf die Praxis des Tantra vorbereiten.

Lha-tong findet sich auch im Sutra, ebenso wie Nyi-méd im Tantra. Lhun-drup ist vollständig eine Dzogchen Praxis, aber sobald man sich durch die Übungen von Shi-né, Lha-tong und Nyi-méd hindurchbewegt hast, ist es sehr gut möglich, Lhundrup zu erfahren. Es gibt auch andere Überschneidungspunkte bei diesen Praktiken; Shi-né zum Beispiel. Shiné wird im Tantra angewendet, weil man die Befähigung für Shi-né haben muss, um in das Tantra einzutreten. Man stellt fest, dass die vier Naljor die vorhergehenden Fahrzeuge kurz und bündig umfassen.

Q Du hast Dzogchen so wunderbar als einen vollständigen Pfad beschrieben, aber wenn man sich umschaut und die verschiedenen Lamas betrachtet, die Dzogchen lehren und die unterschiedlichen Studenten, die es praktizieren, scheint kaum jemand etwas anderes als Dzogchen zu praktizieren. Es scheint immer im Zusammenhang mit tantrischen Praktiken gelehrt zu werden. Was ist also der Hintergrund davon?

R Es wird auch zusammen mit sutrischer Praxis gelehrt. Aus der Perspektive des Dzogchen gibt es keinen Grund, nicht alle Fahrzeuge zu praktizieren. Es ist sehr wichtig, dass man offen dafür ist, alle Yanas zu praktizieren, weil man sich selbst in verschiedenen Bedingungen wiederfindet. In gewisser Hinsicht gibt es so etwas wie einen Dzogchen Praktizierenden nicht, oder jemanden, der nur Dzogchen praktiziert. Das ist ein modernes Missverständnis. Man kann mit einem Lehrer praktizieren, dessen Hauptperspektive Dzogchen ist, aber man würde sich selbst nie als einen Dzogchen Praktizierenden bezeichnen; man würde sich selbst als Nyingmapa bezeichnen. Bei der Idee, ein Nyingmapa zu sein, ist es wichtig, offen für den gesamten Praxisstrom zu bleiben. Man ist offen für alle Fahrzeuge, und man praktiziert das mit einem Lehrer. Also würde man nicht sagen: Ich bin ein Praktizierender des Dzogchen, man würde sagen: Ich bin ein Nyingmapa; Ich bin ein Student von Dudjom Rinpoche, und ich praktiziere, was er mir zu praktizieren geraten hat. Man würde nicht sagen: Ich bin ein Praktizierender des Mahayoga oder Ich bin ein Anu Yogi oder sonst etwas dieser Art – das wäre ein bisschen lächerlich.

Q Warum würde man das nicht tun?

R Man würde das nicht tun. „Ich bin ein Dzogchen Praktizierender“ zu sagen bedeutet, dass man auf der Erfahrungsbasis der Dzogchen-Lehren lebt. Tatsächlich praktiziert man einfach das, was unter der Anleitung des Lehrers zu praktizieren angemessen ist. Der Lehrer könnte in seinen oder ihren Belehrungen vom Standpunkt des Dzogchen her kommen; aber auch so wird er oder sie Belehrungen aus allen Fahrzeugen geben. Er oder sie wird den jeweiligen Praktizierenden angemessen anleiten, bezogen darauf, was im Moment erforderlich ist.

Q Jemand fragte mich vor kurzem: „Warum wird Dzogchen nicht öffentlich gelehrt?“ Sie meinte „öffentlich“ nicht im Sinne von „nicht geheim’, aber im Sinne von außerhalb der Strukturen von Übertragungslinie, Linienbuddhas, Hingabe z.B. für Padmasambhava und Yeshé Tsogyel. Sie fragte, warum sie ermutigt wurde, diese Dinge sehr ernst zu nehmen. Sie fand, dass es für sie eine Last war. Was würdest du dazu sagen?

R Ich würde sagen, dass sie sich wie ein Kind anhört, dass seine Eltern fragt, warum es nicht immer soviel Eis haben kann, wie es essen möchte… Ich denke, hier gibt es viele verschiedene Fragen. Eine Frage ist: warum ist sie versucht Dzogchen abzusplittern, als ob es für sich allein stünde? Warum stellt sie sich vor, dass sie ermutigt wird, irgendwas auf irgendeine Art und Weise zu tun? Sie sagt einfach, ich möchte das Blut des Hundes, aber ich möchte nicht den Hund – und trotzdem möchte ich ihn lebendig und dass er wie ein Hund herumrennt. So würde sie es wohl sehen, was ihre Geistesverfassung sehr tragisch macht. Es ist ein gieriger und greifender Geisteszustand. Ich erinnere mich an einen Mann, der einmal in Cardiff lebte. Er sprach mit mir über sein Erlebnis mit Gegen Khyentsé Rinpoche. Dieser Mann machte die Ngöndro-Praxis, und er machte seine 100,000 Niederwerfungen, die er dreimal machen musste – und an einem Punkt sagte er zu Gegen Khyentsé Rinpoche: „Das ist wirklich schwierig für mich“. Alles, was Gegen Khyentsé zu sagen hatte, war: „Ich habe dich nie gebeten, das zu tun“. Der junge Mann hatte seinen Wunsch zu praktizieren ausgedrückt und so hatte Gegen Khyentsé Rinpoche ihm eine Praxis gegeben. Auf diese vollständige Steinmauer zu treffen, war sehr hilfreich für ihn.

Traditionen existieren und wenn Leute an ihnen teilhaben möchten … dann haben sie an ihnen teil. Wenn Leute nicht an ihnen teilhaben möchten… dann haben sie nicht an ihnen teil. Wenn man sagt: „Was mir wirklich zusagt, ist Gehirnchirurgie“, aber sich weigert, irgendwas über menschliche Anatomie zu lernen, wenn man es nicht für nötig hält, ein Arzt zu werden und ein Chirurg… und bloß großes Geschrei darüber macht, dass man auf das „ganze Zeug“ keine Lust hat: „Ich will jemandem den Kopf aufschneiden, verstehst du – ich möchte an das ganze wurmartige Zeug darin kommen, dass ist das Zeug, was mich interessiert, weil es so sehr wie eine Walnuss aussieht, nicht wahr…“ Was bedeutet dieser ganze Unsinn? Er bedeutet nichts. Du kannst ebenso fragen: „Warum kann ich es nicht in der Pfadfinderhütte lernen?“, „Warum kann man kein Pfadfinderabzeichen für Gehirnchirurgie bekommen?“

Q Also muss man tatsächlich einen Lehrer suchen und dann den Lehren folgen, wie er sie darlegt?

R Ja. Du suchst nach einem Lehrer. Der Lehrer kommt zuerst, weil du jemanden finden musst, der für dich den Zustand, den du anstrebst, verkörpert. Dann folgst du den Methoden dieses Lehrers. Wenn man durch die Lektüre von Büchern über Dzogchen oder Mahamudra eine gewisse Vorstellung entwickelt und man den Wunsch entwickelt, nur „dieses Etwas“ haben zu wollen, dann wird das ziemlich problematisch. Es ist unmöglich, einen Lehrer zu finden, der auf diese zersplitterte Art lehrt – wenn man nicht auf so ein New-Age-Gebräu aus ist von einem Dzogchenpa oder einer Dzogchenma, die ihr eigenes Rigpa-Risotto kochen. Anderenfalls geht man zu einem authentischen Lehrer und verschwendet dessen Zeit, indem man ihn ausquetscht, warum er nicht einfach nur Dzogchen lehrt, denn: „Das ist es, was ich will…“

Dies ist ein vollständig verzerrter Weg, sich dem Buddhismus anzunähern, weil man so nur mit der eigenen Subjektivität arbeitet. Man folgt nur dem, was man will. Ich nehme an, jeder hat den Wunsch, die höchste Praxis machen zu wollen. In gewisser Hinsicht ist daran nichts falsch – warum sollte man nicht das Beste wollen? Aber davon auf bockige Art besessen zu sein, bedeutet, das man nicht versteht, das es darum geht, etwas zu bekommen, was einem hilft, sich zu entwickeln. Wenn man sich für sich selbst nur die höchstmögliche Technik vorstellen kann, besonders wenn sie nicht dem eigenen Praxislevel entspricht – so ist das total verrückt.

Q Aber du lehrst die Methode des Dzogchen, nicht wahr Rinpoche?

R Ja. Ich lehre die Methode des Dzogchen. Und ich belehre Leute, die sie möglicherweise nicht anwenden können, auf der Ebene des Dzogchen. Sie werden dann nur scheinbarDzogchen praktizieren. Aber ich mache den Leuten immer klar, dass dieses „Dzogchen“ genannte Ding nicht Dzogchen ist, wenn sie sich nicht tatsächlich auf der Basis von Dzogchen befinden. Um sich dort zu befinden, muss man die Erfahrung von Rigpa gemacht haben. Für jemanden, der keine Erfahrung von Rigpa hat, ist es unmöglich, Dzogchen zu praktizieren. Ich würde sagen, dass ich in gewisser Hinsicht vielleicht nicht Dzogchen lehren sollte. Aber auf einer anderen Ebene ist es sehr wertvoll es zu lehren, weil die Menschen sehr inspiriert sind, solche Lehren und solche Methoden zu hören. Wenn sie von Dzogchen gehört haben, sind Menschen oft viel zufriedener, wenn sie sich mit ihrer Shi-né Praxis abmühen. Die Methoden des Dzogchen funktionieren immer, egal welche Ebene der Praxis man erreicht hat. Also tendiert meine Haltung dazu, dass ich Dzogchen Methoden lehre und die Leute können sie anwenden; aber sie müssen verstehen, dass sie nicht Dzogchen praktizieren, so lange sie nicht die Basis der Dzogchen Praxis erreicht haben. Sie benutzen ein Dzogchen-Schema als ein Hilfsmittel für die Shi-né Praxis. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie Dzogchen praktizieren.

Bezogen nun auf die Anrufung der Linienlamas und all die anderen Aspekte, die mit der Praxis innerhalb einer Tradition einhergehen, ist es wichtig, zu verstehen, dass solche Dinge entwickelt wurden, um ein Zugehörigkeitsgefühl zur Linie hervorzurufen. Dies kann den Praktizierenden unterstützen durch eine Inspiration zur Praxis. Insbesondere im Westen sind wir sehr darauf aus, die wirksamen Inhaltsstoffe zu isolieren. Wir machen das in der Medizin, wobei dies seine eigenen Probleme haben kann, aber bei spiritueller Praxis kann es den isolierten Bestandteil komplett nutzlos machen. Bei der spirituellen Praxis kann man die Wirksubstanz nicht herausisolieren.

Je älter ich werde und je mehr ich mit Leuten zu tun habe, die an offenen Retreats teilnehmen, umso mehr verstehe ich die Soziologie der Religion. Ich denke, in gewisser Hinsicht ist der Aspekt von all dem, gegen den manche Leute Einwände erheben, Religion. Sie sind gegen Religion ohne die wertvolle Funktion, die sie erfüllt, zu begreifen. Religion hat eine Reihe von nützlicher Funktionen. Menschen, die nicht in einer kohärenten Kultur mit einer Religion leben, neigen zu Nihilismus und Depression. Und wenn man in diesem Zusammenhang in Isolation an der eigenen Entwicklung arbeiten möchte, dann ist das, was man praktiziert, eine Version des Pratyekabuddhayana. Also ein Hinayana Pfad; aber einer, der wahrscheinlich nicht funktioniert, weil er ohne Disziplin ist. Wenn man diese Art von „Hinayana“-Sicht hast… wie kann man dann Dzogchen praktizieren? Es wäre zwecklos.

Hierbei ist es wesentlich, auf seine tatsächliche Motivation und Orientierung zu achten. Jede Religion bezieht den Praktizierenden in etwas ein, das größer ist als er selbst. Im Mahayana erreicht diese Beteiligung einen fantastischen Höhepunkt, wenn die eigene Praxis dem Wohlergehen aller fühlenden Wesen gewidmet wird. Im Tantra kehrt sich diese Motivation von innen nach außen und sie wird durch die Hingabe an den Lehrer und die Linie erweckt. Dies sind die Aspekte des Pfades, die einen auch weiter praktizieren lassen, wenn man frustriert ist.

Praxis ist wie ein Schmerz im Hintern – buchstäblich. Praxis ist ein Schmerz in der Anatomie des Körpers, der Sprache und des Geistes und man muss etwas haben, dass größer ist als man selbst, um diese Frustration zu überwinden. Da muss eine Art Energie vorhanden sein, die nicht primär selbstorientiert, selbstbeurteilend, oder selbstbezogen ist. Daher sage ich Paaren, die Probleme haben, dass sie daran so lange arbeiten können, wie sie die Energie haben, daran zu arbeiten. Wenn sie die Energie daran zu arbeiten nicht mehr haben, wenn sie sich tatsächlich nicht mehr lieben, wie können sie dann an ihren Problemen arbeiten? Wie kann man die andere Person so lassen wie sie ist und großzügig sein, wenn man keine Selbstlosigkeit empfindest? Dasselbe trifft auf die Praxis zu; man sollte unabhängig vom eigenen inneren Prozess Energie für etwas haben. Wenn Menschen bloß ihren eigenen inneren Prozess vergöttern, sind sie nicht einmal „Hinayana“ Praktizierende – sie sind bloß unfähige Egomanen. Das ist ein wirkliches Problem… würde ich sagen [lacht]. Also dies ist eine sehr weitschweifige Antwort auf deine Frage – tut mir leid.

Q Dies ist wirklich wichtig, es eröffnet einen wichtigen Bereich… Um noch einmal auf das zurückzukommen, was zu über die Entwicklung eines Praktizierenden sagtest, also die Entwicklung als Individuum.Hier eröffnet sich die Frage nach der Existenz als Praktizierender, der ein Leben hat und einen Teil dieses Lebens praktiziert und den Rest dieses Lebens einfach lebt. Vielleicht könntest du etwas darüber sagen, wie du oder andere Lamas, von denen du weißt, Menschen in Bezug auf die verschiedenen Fahrzeuge lehren zu praktizieren und zu leben. Manchmal scheint es, als ob Menschen gemäß eines Fahrzeugs praktizieren, jedoch ihr Leben gemäß eines anderen Fahrzeugs leben und da gibt es auch einige interessante Kombinationen…

R Oft wird bezogen auf die Fahrzeuge gesagt, dass man äußerlich Hinayana praktiziert, innerlich Mahayana und im Geheimen Vajrayana.

Q Was ist der Unterschied zwischen innerlich und geheim?

R Innerlich bezieht sich auf die Motivation – sie sollte mitfühlend sein. Geheim bezieht sich auf Kyé-rim und Dzog-rim Praktiken – die Praktiken von Visualisation und Mantra, und die Praktiken der Raum-Nerven und Raum-Winde. Äußere Handlungen stimmen mit dem Hinayana überein, womit Vinaya, Ethik und Disziplin gemeint sind. Innerlich, bezogen auf die Motivation, handelt man dem Mitgefühl entsprechend. Im Geheimen lebt man innerhalb des Mandalas des Lamas.

Q Schließt dies nicht Dzogchen von den Serien aus… sofern du Dzogchen nicht als Teil des Vajrayana ansehen kannst?

R Ja.

Q Was also ist mit Ati Yoga?

R Du könntest sagen, das war das letzte, „Yang-sang“, die ‘geheimste“ Ebene – aber das wird in diesem Zusammenhang so meist nicht ausgedrückt. Äußerlich, innerlich, geheim und letztendlich sind ein vierfacher Weg, die Praxis zu beschreiben, aber die „letztendliche“ Kategorie ist üblicherweise nicht Teil dieser Definition. Diese Definition ist einfach ein Weg, die Fahrzeuge übereinstimmend mit den Klassifikationen des „Hinayana, Mahayana und Vajrayana“ zu erklären. Es gibt viele Definitionen. Diese spezielle Definition ist auf die monastische Praxis ausgerichtet.

Im Aro gTér nähern wir uns der Praxis aus der Perspektive des Dzogchen – und wir nähern uns dem täglichen Leben aus der Perspektive des Tantra. Das bedeutet, dass man sich der Praxis nähert mit einem Gewahrsein für den eigenen Zustand. Der Stil der Praxis bestimmt sich immer durch das was jemand zu einem bestimmten Moment braucht. Daher betonen wir bei unseren Belehrungen immer die Funktionsweise der Praxis – wie sie sich beim Einzelnen auswirkt. Die Leute müssen ein gutes Verständnis davon haben, wie die Übungen wirken, dann können sie losgehen und das praktizieren, was sie gerade brauchen, entsprechend ihrer Wahrnehmung der eigenen Situation. Wenn sie dann Probleme bekommen, besprechen sie diese mit dem Lama – da findet Interaktion statt…

Gemäss der tantrischen Sicht von Praxis macht man so lange jeden Tag eine Praxis, bis der Lama einen anweist, zu einer anderen Praxis überzugehen. Wir verwenden eher einen Stil, wo die eigene Praxis einem Werkzeugkasten ähnelt, statt einer Reihe von Verpflichtungen, die durchgeführt werden müssen. Der Praktizierende verwendet Übungen und ist sich der Zeit, des Ortes und der eigenen Energie gewahr. Wir nähern uns der Lebensführung entsprechend der Sicht des Tantra. Wir sprechen über Emotionen und über das Umarmen der Emotionen als den Pfad. Wir sprechen darüber, das tägliche Leben als Praxis zu erfahren; und in diesem Kontext wird die Sprache der Belehrungen zum Feuerwerk. Wenn wir über Praxis sprechen, wird unser sprachlicher Ausdruck üblicherweise ziemlich mild. Er ist ziemlich ausgeglichen und raumhaft, weil er aus einer Dzogchen-Perspektive kommt. Dzogchen hat wirklich keine feurige Sprache, weil es sich eher mit dem klaren blauen Himmel befasst, als mit den sich zusammenballenden Kumuluswolken und den zackigen Blitzen, die den Himmel verzieren können. Aber wenn es um das tägliche Leben geht und das Reiten der Energie der Dualität… wird die ganze Atmosphäre aufgeladen – die Sprache wird ein klein wenig wilder und farbiger, entsprechend unserer Erfahrung von der Beschaffenheit des täglichen Lebens.

Q Haben andere Lehrer andere Auffassungen davon?

R Manchmal ja. Vielleicht oft – es hängt von dem Fahrzeug ab, das ein Lama als Grundlage für seine oder ihre Belehrungen verwendet.

Q Welche anderen Kombinationen könnte es geben? Ich habe dich zu Dzogchen und Tantra befragt und du erwähntest, dass sich Dzogchen und Sutra in der Sprache ähneln.

R Ja. Dzogchen und Sutra klingen ähnlich. Aber Sutra bringt nicht so sehr Entspannung zum Ausdruck, sondern vielmehr Gelassenheit. Die Sprache des Tantra ist natürlicherweise gewürzt, weil sie sich mit der Ambivalenz von Leerheit und Form befasst und der resultierenden Elektrizität. Daher kann der Symbolismus oft aufregend sein, gelinde gesagt…

Q Welche Kombination wurde im Aro Gar benutzt? Welche Ausrichtung oder Vorliebe hatten die Menschen dort in ihrem Praxis-Leben?

R Die Dzogchen-Perspektive.

Q Und was ist mit Sadhanas?

R Es gibt keine Sadhanas im Aro gTér – nur Visualisation und Mantra. Es gab keinen Mandala-Aspekt in dem Sinne, das jedes Gewahrseinswesen ein Gefolge hätte – nur die Meditationsgottheit. Es gab das Gewahrseinswesen und das Mantra und die Praxis bestand im Selbst-Erstehen.

Q Das Aro Gar betrachtend und deine Apprentices heute scheint es, dass du großen Wert darauf legst, dass die Leute viel Erfahrung mit der formlosen Praxis bekommen. Aber dann betonst du auch die Idee, dass jeder eine lebenslange tantrische Praxis hat. Du möchtest auch, dass wir viel Erfahrung mit bestimmten Yidams bekommen, ausgehend von Padmasambhava und Yeshé Tsogyel. Worin liegt der Nutzen, beides zu haben, wirklich hart darauf hin zu arbeiten, um mit beidem Erfahrung zu machen?

R Dies sind die beiden Speichen der Praxis, im Sinne von Weisheit und Mitgefühl. Die Praxis des Gewahrseinswesens, des Gewahrseinsspruchs, der Visualisation und des Mantra entspricht der Praxis des Mitgefühls, bzw. der Energie der Kommunikation. Die formlosen Praktiken wie die vier Naljor, die vier Da, die vier Chog-zhag aus den Serien des Dzogchen – diese sind die Weisheitspraktiken. Also praktizieren wir immer beides. Das ist sehr wichtig. Es war typisch für die yogischen Gemeinschaften, die Praxis des Dzogchen mit der Praxis zornvoller Gewahrseinswesen zu kombinieren.

Q Warum speziell zornvolle Praxis?

R Weil es für die Dzogchenpraxis als wichtig erachtet wird, das man mit Energie sehr direkt umgehen kann. Zornvolle Praktiken verstärken alles, so dass man mit seinen eigenen Mustern konfrontiert wird. Man wird mit Mustern konfrontiert, die man zerstören will. Der einfachste Weg, jeden dualitätsgesteuerten Mechanismus in einem zu zerstören, ist der, auf dessen Gaspedal zu treten. Die zornvollen Praktiken treten auf das Gaspedal.

Q Was passiert dann mit den Neurosen?

R Sie zerschellen an der ersten Mauerwand, das ist die Idee [lacht]. Karma kollidiert einfach mit sich selbst und explodiert.

Q Du sagtest, dass man so sehr direkt mit Energien arbeiten kann… Warum ist das eine brauchbarere Methode, als daran zu arbeiten, Energien durch formlose Praxis zu befreien?

R Weil, wenn man formlose Praxis macht, kommt alles von einem selbst. Wohingegen man Unterstützung erhält, wenn man mit Symbolen arbeitest

Q Woher?

R Vom Symbol.

Q Ist das etwas außerhalb von einem?

R Nun, es ist etwas, was man bislang noch nicht in sich gefunden hast. Es ist außerhalb von einem, weil man, selbst wenn man das Selbst-Erstehen übt, die Übertragung des Symbols gehabt hast. Vielleicht ist es das Symbol, das als Dorje Tröllö bekannt ist. Der Lama beschreibt Dorje Tröllö und gibt Instruktionen, wie man in dieser Form ersteht und das Mantra singt, das die Vajra-Essenz seiner Sprache ist. In gewisser Hinsicht ist dies außerhalb des Selbst. Anders als in der formlosen Praxis lässt man nicht einfach alles auftauchen. Mit der Praxis des Lha-tong findest du die Präsenz des Gewahrseins in dem, was auch immer erscheint, somit gibt es keine Vorgabe von irgendetwas Äußerlichem. Offensichtlich wird das Symbol beim Selbsterstehen zum Selbst und ist nicht länger äußerlich. Aber es hat noch einen äußeren Ursprung und ist dadurch hilfreich, weil Gewahrseinswesen inspirierend sind.

Wir brauchen alle eine inspirierende Praxis, solange wir als Symbole unseres erleuchteten Zustands existieren. Solange man ein Symbol der eigenen Erleuchtung ist, kann man Symbole nutzen – also ist es wichtig, Symbole zu verwenden, aber auch Symbole nicht zu verwenden. Es ist wichtig zu erkennen, dass man Symbol seines eigenen erleuchteten Zustandes ist. Für ein Wesen, das in dieser symbolischen Form existiert, ist die Praxis mit einem Symbol immer wertvoll. Man praktiziert Tantra immer zusammen mit Dzogchen. Man praktiziert auch Sutra. Man praktizierst alle Yanas entsprechend der Anweisung, die man vom Lama erhalten hat.

Q Vielleicht ist jetzt der Augenblick, dich zur Dzogchen Praxis zu befragen… Ich wollte dich bitten zu erläutern, was im Dzogchen die Unterteilung in die drei Serien bedeutet.

R Die drei Serien des Dzogchen stimmen überein mit den drei Aussagen von Garab Dorje, den Tsig Sum Né-dek – „die Essenz in drei Schlagwörtern zusammenfassen“. Diese drei Schlagwörter sind: direkte Einführung, Verweilen ohne Zweifel, und den Zustand beibehalten. Sem-dé ist verbunden mit der direkten Einführung. Long-dé ist verbunden mit Verweilen ohne Zweifel. Men-ngak-dé ist verbunden mit dem Beibehalten des Zustandes.

Sem-dé ist die Serie der Natur des Geistes. Das wurde von bestimmten Wissenschaftlern falsch übersetzt als „Mentale Serie“. Das ist vielleicht nicht so überraschend, weil Wissenschaftler sehr wörtlich vorgehen. Wenn man Sem-dé übersetzt, dann bedeutet es wörtlich ‚mentale Serie“. „Sem“ bedeutet „Geist“. Aber „sem“, wenn das Word in der Dzogchen-Terminologie verwendet wird, ist einfach eine Kurzform für „sem-nyid„, was die „Natur des Geistes“ bedeutet. Wenn wir über Sem-dé sprechen, sprechen wir über nichts, was mit dem konzeptuellen Geist zu tun hat. Wir sprechen nicht über konzeptuellen Geist, weil das keine Frage auf der Ebene des Dzogchen ist. Also… Sem-dé bedeutet „die Serie der Natur des Geistes“. Sem-dé ist die Serie des Dzogchen mit den meisten Erklärungen. Als Übertragung durch Erklärung ist Sem-dé also der detaillierteste Aspekt des Dzogchen. Sem-dé entspricht der direkten Einführung. Es bietet Erklärungen und offeriert Methoden im Sinne der direkten Einführung.

Long-dé ist verbunden mit dem Verweilen ohne Zweifel und beinhaltet viel weniger Erklärungen als Sem-dé. Es basiert auf der Tatsache, dass man schon eine direkte Einführung gehabt hat und befasst sich mit dem Verweilen ohne Zweifel. Es betrifft Methoden zur Rückkehr in den Zustand von Rigpa durch die Empfindung subtiler Sinneswahrnehmungen, in denen man ohne Zweifel verweilt. Zweifel ist eine Erfahrung. Von Zweifel frei zu sein ist auch eine Erfahrung; es ist ein Zustand für sich. Also befasst sich Long-dé mit der Erfahrung der Sinneswahrnehmung. Vor allem finden wir im Long-dé die Präsenz des Gewahrseins in der Dimension der Sinneswahrnehmung. Die Long-dé-Praktiken des Aro gTér beinhalten die Praxis des sKu-mNyé, weil es mit den Zap-nyams arbeitet – mit tiefgreifend subtiler Erfahrung. In vielen verschiedenen Belehrungen des Long-dé gibt es besondere Haltungen, für die Gurte und Stäbe gebraucht werden (Gom-tag und Gom-shing oder Gom-ten) und Hilfsmittel verschiedener Art, welche die Funktion haben, bestimmte Punkte zu drücken. Diese Druckpunkte werden verwendet, um Sinneswahrnehmungen hervorzurufen, in denen man die Präsenz des Gewahrseins findet. Insbesondere sKu-mNyé wirkt so. Es nutzt Sinneswahrnehmungen durch Methoden zur Stimulation des Tsa-lung-Systems.

Men-ngak-dé ist mit dem Beibehalten des Zustands verbunden. Es beinhaltet sehr wenige Erklärungen. Es gibt lediglich Anweisungen, um im natürlichen Zustand zu verweilen. Es gibt viele, viele Methoden, von denen im Men-ngak-dé gesprochen wird, aber es ist schwer über ihren Charakter außerhalb der Erfahrungsebene zu sprechen, die erforderlich ist, um ihre Bedeutung zu verstehen.

Q Im Aro gTér scheint es zwei Aspekte des Sem-dé zu geben, die vier Naljor und die vier Ting-ngé-dzin?

R Ja. Die vier Naljor sind das Ngöndro des Sem-dé. Die vier Ting-ngé-dzin sind die tatsächliche Praxis des Sem-dé. Dies ist eine Belehrung, die spezifisch für den Aro gTér ist, weil sie die Wichtigkeit des Sem-dé betont. Das Sem-dé spielt keine große Rolle in den anderen Linien des Dzogchen – auch nicht das Long-dé – aber im Aro gTér sind das Sem-dé und Long-dé sehr wichtig, weil sie die Grundlage darstellen, um mit dem Men-ngak-dé in Beziehung zu treten. Im Aro gTér wird besonders betont, dass sehr viel Zeit damit verbracht werden muss, Erfahrungen in jeder Dzogchen-Serie zu machen.

Q Ich dachte, die drei Serien wären nicht aufeinander aufbauend?

R Ja. Sie sind nicht fortschreitend, aber sie sind zunehmend unzugänglich und zunehmend direkt. Solange Praktizierende Praktizierende sind und nicht Buddhas, wird es immer Methoden der Annäherung geben.

Q Welche Unterteilungen der Praxis innerhalb des Long-dé und des Men-ngak-dé gibt es?

R Im Long-dé gibt es die vier Da, oder die vier Symbole. Diese vier werden im Detail zur Sprache gebracht bezogen auf die weit geöffneten Augen, dem Fokus der Augen, der Fixierung der Augen und der Zunge (sowie anderen körperlichen Aspekten). Im Men-ngak-dé gibt es die vier Chog-zhag oder die vier Methoden des so Lassens wie es ist. In den vier Chog-zhag ist die Position des Körpers die, welche Haltung auch immer der Körper im Moment des Chog-zhag einnimmt. Die Position der Augen ist die, wohin auch immer sie im Moment des Chog-zhag schauen. Die Zustand des Geistes ist wie er ist, was auch immer im Moment des Chog-zhag da ist. Bei den vier Chog-zhag kannst du nicht sagen, dass es nicht das ist, wie ich in dem Moment bin: mein Körper ist in der perfekten Position; meine Augen sind in der perfekten Position und mein Geist enthält, was er enthält. Das ist alles den vier Chog-zhag entsprechend richtig; wir alle finden, das wir so sind, aber aus bestimmten Gründen sind wir nicht verwirklicht. Das ist also Men-ngak-dé. Entweder du kannst es praktizieren… oder du kannst es nicht…

Q Ich weiß nicht, was du damit meinst?

R Kann ich mir vorstellen. Das ist die Essenz des Men-ngak-dé. Abgesehen davon gibt es besondere Methoden des Men-ngak-dé, aber das ist der essentiellste Aspekt der vier Chog-zhag.

Q In welcher Hinsicht ist Men-ngak-dé geheim?

R Men-ngak-dé ist insoweit geheim, als du es nur praktizieren kannst, wenn du es praktizieren kannst. Also spreche ich darüber eher selten. Einige Lamas würden gewiss überhaupt nicht darüber sprechen – weil Men-ngak-dé nicht von Menschen verstanden wird, die noch kein Rigpa erfahren haben. Ich denke, im Westen gibt es verschiedene Sichtweisen davon. Menschen hören von den vier Chog-zhag und sind verärgert oder verwirrt, weil sie nichts verstanden haben; oder sie gehören zum dem Persönlichkeitstyp, der sich einfach am Nichtverstehen erfreut, und der sagen könnte: Wunderbar, ich habe nie von so etwas Ungewöhnlichem gehört, es ist einfach so großartig!

Q Du beschreibst anscheinend Attraktion, Aversion und Indifferenz, oder eher: Aversion, Indifferenz, und Attraktion, als eine Antwort auf der Lehren…

R Natürlich – das sind die Arten, wie wir auf der Basis des Dualismus reagieren. Aber es gibt auch andere Möglichkeiten. Man könnte inspiriert sein, weil man von etwa berührt wurde,etwas wirklich Kraftvollem und vielleicht wird Übertragung möglich… Deswegen ist es oft so, dass diese Dinge gelehrt werden. Sie werden zur Inspiration gelehrt. Ob man Men-ngak-dé praktizieren kann oder nicht; davon zu hören kann eine große Inspiration sein.

Q Kann ich zu der Idee zurückkehren, dass es einen Fortschritt innerhalb der Kategorien des Dzogchen gibt in der Art, wie diese drei Serien in einem gewissermaßen sequentiellen oder hierarchischen Arrangement verbunden zu sein scheinen… Könntest du mehr darüber sagen?

R Sem-dé, Long-dé, und Men-ngak-dé haben alle die gleiche Basis, Pfad und Frucht, also können sie in dieser Hinsicht nicht hierarchisch sein. Aber sie scheinen hierarchisch zu sein, weil sie zunehmend nicht-erklärend sind, so wie sie vermittelt werden. Aber sie sind einfach verschiedene Aspekte der gleichen Sache. Sie sind nur sequentiell in dem Sinne, dass sie stabilere Grundlagen im Sinne von Rigpa erfordern. Sem-dé erfordert Funken von Rigpa. Long-dé erfordert Momente von Rigpa. Men-ngak-dé erfordert anhaltende Momente von Rigpa. Wie auch immer, sie alle erfordern Rigpa. Sie erfordern alle Rigpa als die Basis-Erfahrung für Praxis. Das Einzige, was im Dzogchen fortschreitend ist, ist Trek-chod und Togal. Sie sind aufeinander aufbauend. Es hat keinen Zweck zu versuchen, Togal zu praktizieren, bevor man ein gewisses Mass an Stabilität im Trek-chod erreicht hat.

Q Aber um Praktizierende in das Dzogchen einzuführen, indem sie eine Ngöndro-Praxis im Dzogchen-Stil ausüben, würden sie immer in das Ngöndro des Dzogchen Sem-dé eingeführt werden.

R Aus der Perspektive des Aro gTér, ja.

Q Also gibt es bei den anderen Serien keine Möglichkeit, sie auf der Ebene des Ngöndro zu praktizieren?

R Doch, es gibt immer ein Ngöndro. Es gibt auch ein Ngöndro für Togal.

Q Ist dies das forcierte Shi-né unter der Verwendung des Buchstabens ‘A“ innerhalb von fünffarbigen Kreisen?

R Ja, kombiniert mit Übungen, die Tsa-rLung ähneln.

Q Was ist dann der Hauptgrund, warum du so darauf achtest, dass das sKu-mNyé gelehrt wird? Dies sind Long-dé-Praktiken, nicht wahr?

R Ja, es sind Long-dé-Praktiken; und der Hauptgrund, warum ich sie begleitend zu Sem-dé lehre, ist der, dass die Trül-khor-Übungen, die mit dem Sem-dé zusammenhängen, für die meisten Menschen zu anstrengend sind. Sie erfordern auch eine große Beweglichkeit. Nur Menschen, die gut imHatha Yoga sind, haben eine Chance Trül-khor praktizieren zu können, also lehre ich sKu-mNyé, weil ich meine, dass es sehr wichtig für Praktizierende ist, eine Art von Körperübungen zu machen.

Q Was können Leute, die neu auf ein offenes Lehr-Retreat kommen und vielleicht nicht einmal regelmäßig meditieren, hiervon mitnehmen?

R Fit zu bleiben.

Q Also mit anderen Worten, weil Menschen es als eine Ergänzung für jede Praxisebene brauchen.

R Ja. Ich denke, dass es wichtig ist, dass Menschen in der Lage sind zu praktizieren. Wenn jemand sagt, dass es erforderlich ist, dass man die Lotushaltung können muss, um Shi-né zu praktizieren, dann wird es viele Menschen geben, die niemals Shi-né praktizieren werden. Das wäre schade. Es gibt einen kleinen Zyklus des Trül-khor, der mit dem Dzogchen Sem-dé im Aro gTér zusammenhängt, aber diese Praktiken erfordern alle ein Maß an Stehvermögen, Flexibilität und Beweglichkeit des Körpers, dass viele Leute nicht haben. Ich lehre sKu-mNyé, weil es viele Übungen in diesem System gibt, die jeder machen kann. Für mich ist der signifikante Punkt, dass Menschen tatsächlich in die Lage versetzt werden zu praktizieren. Ich beginne damit. sKu-mNyé ist wichtig, weil jeder es praktizieren kann.

Wenn man ins Retreat geht, gibt es eine begrenzte Menge Zeit, die jedes Individuum sitzen kann. Wenn du also ein Wochen- oder Drei-Wochen-Retreat machen willst, ist es nicht möglich, einfach jeden Tag zu sitzen, tagein, tagaus. Es ist nicht möglich das zu machen, bis du dich dahin gebracht hast, für vier oder fünf Stunden am Tag zu sitzen als Teil des alltäglichen Lebens. Aber wenn du nur gewöhnt bist, für eine Stunde am Tag zu praktizieren, gibt es keine Möglichkeit, plötzlich ins Retreat zu gehen und für acht oder neun Stunden am Tag zu sitzen. Du würdest sehr große Schmerzen bekommen und das hat keinen Zweck. Daher ist es wichtig, um ein kurzes Retreat absolvieren zu können, dass man zwischen Sitzpraxis und Körperübungen abwechselt. Nun sicher… du könntest einfach das Canadian Air Force Buch rausholen und diese Übungen machen. Das würde funktionieren. Aber es wäre schade das zu tun, wenn man statt dessen Übung haben könnte, die mit der Praxis verbunden sind.

Also ist das sKu-mNyé sehr hilfreich. Es stimuliert das Tsa-lung-System, so dass sowohl Nyams als auch Zap-Nyams entstehen können. Mann kann sKu-mNyé praktizieren und dann in die darauf folgende Meditationshaltung eintreten. Auf die sKu-mNyé Übungen folgt Meditation im Liegen und das bewirkt nicht die gleiche Belastung für den Körper, als wenn man sitzt. Das ist ein weiterer Grund, weswegen ich es nützlich finde. Auch wenn man Probleme mit Schläfrigkeit oder Ablenkung hat, ist sKu-mNyé sehr nützlich, auch um einmal richtig durchzuatmen. Wenn du in deiner Meditation feststeckst, kannst du sKu-mNyé praktizieren, das macht frisch und man kann wieder sitzen. Es ist gut, sKu-mNyé in das alltägliche Leben zu integrieren, weil es hilft fit zu sein. Es ist hilft dabei, beweglich zu bleiben.

Durch die Nebenfunktion, eine freiere Bewegung des rLung zu ermöglichen fördert sKu-mNyé die Gesundheit. Je ungehinderter das rLung fließt, desto besser für die Gesundheit. sKu-mNyé löst auch einige der körperlichen Probleme, die mit der Meditation entstehen. Die sitzende Haltung über längere Zeit ist nicht wirklich eine sehr natürliche Haltung für den Körper. Der Körper als ein biologischer Organismus ist nicht wirklich darauf ausgerichtet, für lange Zeit bewegungslos zu bleiben. Es ist nicht natürlich und weil es nicht natürlich ist, wird der Körper nicht immer allzu gut damit fertig. Du kannst viele alte Lamas finden, die durch die viele Jahre des Sitzens verkrüppelt sind. In gewisser Hinsicht ist das ein klein wenig schade, den eigenen Körper bis zu diesem Grad loszulassen. Wenn man Verwirklichung erreicht, ist es egal, ob man verkrüppelt ist oder nicht, es hängt davon ab, auf welche Weise man es betrachtet. Aber in der yogischen Tradition wird es als wichtig angesehen, dass man die physische Form respektiert. Im Tantra ist das tatsächlich eine ganz wichtige Feststellung. Es ist eine der Verfehlungen der Wurzel-Gelübde, die physische Form zu missachten, weil die physische Form die Basis der Verwirklichung ist. Aus dieser Perspektive würdest du also deinen Körper nicht in so einem Masse bestrafen wollen.

Q Wir praktizieren das Ngöndro des Dzogchen Sem-dé in Verbindung mit sKu-mNyé aus dem Long-dé. Ich wollte dich nur fragen, wie das Trül-khor als eine Sem-dé-Praxis in Verbindung mit den Sitzpraktiken aus dem Sem-dé funktioniert. Was ist seine Intention?

R Trül-khor ist ein anderes System, mit dem Tsa-lung zu arbeiten. Trül-khor ist wie Hathayoga und Pranayama mit Bewegung kombiniert. Du bewegst dich von einer Haltung zur nächsten und verbindest die Bewegung mit dem Atem. Dies ist eine Praxis, die das naürliche Atmen fördert. Die Qualität oder Verfassung des Sem hängt ab von der Qualität oder Verfassung des rLung ab. Wenn das rLung gestört ist, dann ist das Sem gestört und Sem-nyid wird nicht auftreten – der Praktizierende verfängt sich in der Erfahrung des Sem als Totalität. Sem als Totalität zu erfahren spiegelt sich in unnatürlicher Atmung. Um Sem-dé zu praktizieren, musst du fähig sein natürlich zu atmen – das ist wirklich ganz wichtig.

„Khor“ bedeutet Zyklus oder Kreis, und „trül“ bedeutet erscheinende Manifestation. Es wird über die Atmung gelegt. Trül-khor hat in seiner Etymologie eine Verbindung mit „Mechanismus“. Du verwendest deinen Körper als einen Mechanismus, der Energie harmonisiert. Die Praxis des Trül-khor unterstützt die Harmonie der Energie auf der Ebene des rLung, so dass eine natürliche Atmung erreicht wird. Mit dem Tsa-lung-System auf der Ebene des Long-dé zu arbeiten ist anders – damit rufst du verschiedene subtile Phänomene hervor. Dahingegen erlaubt die Praxis des Trül-khor dem rLung, in seinen natürlichen Zustand einzutreten, um entspannter zu werden – natürlicher friedvoll. Auf jeden Fall wird auch die Nebenfunktion des sKu-mNyé diesen Effekt haben. sKu-mNyé ist wirklich eine so wertvolle Praxis – Ich kann sie nicht genug hervorheben.

Q Ich denke, Lama Namkha’i Norbu Rinpoche übersetzte den Begriff Trek-chod als „cutting, schneiden“ im Sinne des Auseinanderschneidens eines Bündels, etwas, das ein Bündel von Dingen gewesen ist, dass eng zusammen gebunden war und dann wird es auseinander geschnitten, und die Bestandteile des Bündels fallen einfach runter, und entspannen sich, wo auch immer sie dann zufällig liegen, in ihren natürlichen Zustand hinein. Wenn man Trül-khor praktizierst, ist das ein ähnlicher Prozess, den Elementen in dieser Weise zu erlauben, sich in ihren natürlichen Zustand hinein zu entspannen?

R Ja. Die Praktiken sind sehr ähnlich. Wenn man sich die Praktiken der buddhistischen Fahrzeugen betrachtet, erkennt man, wie jede Ebene der Praxis eine subtilere Version der vorhergehenden ist.

Q Könntest du erklären, was Trek-chod ist?

R Ich übersetze Trek-chod als „die Parameter der konventionellen Realität sprengen“ oder du könntest es einfacher als „Wegsprengen“ oder „Durchschneiden“ oder „Explodieren des Zustands“ übersetzen.

Q Ich habe immer darauf geachtet, wie du sehr bewusst eine dynamischere Übersetzung von etwas gewählt hast als die traditionelle oder wörtliche. Also ist es nicht nur eine Frage des Auseinanderschneidens von etwas, ein Band durchzuschneiden und dann fällt etwas runter – es nicht nur abschneiden, sondern es tatsächlich wegsprengen. Kannst du erklären, wie das funktioniert, dass sich die Dinge in ihren natürlichen Zustand hinein entspannen? Woher kommt die Explosion in der Trek-chod-Praxis?

R Vom Gebrauch der Silben wie „Phat“ oder „Ha“ – sie explodieren den Zustand. Das Symbol des Durchtrennens einer Kordel, die ein Bündel Stäbe zusammenhält, die dann einfach hin fallen, wo immer sie hinfallen… es gibt mehr Dynamik in dieser Erklärung als du dir vorstellen kannst. Wenn das Bündel sehr stramm gebunden ist und es wird durchtrennt… könnten die Stäbe weg fliegen! Sie könnten miteinander kollidieren und sich in der Luft drehen, bevor sie auf dem Boden landen. Wenn sie auf dem Boden landen, – fwap – dann sind sie einfach da, wo sie sind… aber sie könnten ein paar Purzelbäume auf dem Weg machen. Es ist ein Bündel Stäbe, wovon die Rede ist, kein kleines Päckchen Federn. Wir sprechen nicht von einer Handvoll Tampons, die sachte auf einen hochflorigen Teppich fallen…

Q Also ist es ganz wichtig, sich beim Sitzen diese Erklärung des Explodierens immer vor Augen zu führen, egal in welchem Zustand man sich befindet. Was wir wirklich zu tun versuchen, ist einen Zustand herzustellen, der gesprengt werden kann.

R Ja.

Q Also, das ist es, worum es beim Trek-chod wirklich geht, in einen Zustand gelangen, in dem Explosion effektiv sein kann.

R Stell dir vor, wie es ist einen Schock zu bekommen… Zum Beispiel; vielleicht schleicht sich jemand von hinten an und schreit. Zuerst bist du schockiert, aber dann gibt es ein Gefühl der Entspannung, wenn du weißt, es ist nur ein Freund, der darauf aus war, dir einen Streich zu spielen. Wenn du die Entspannung fühlen kannst, die von derplötzlichen Anspannung kommt, aber dann realisierst, da gibt es nichts, weswegen man angespannt sein müsste… dann gibt es da einen Moment von Raum. Da ist Raum, in dem Konzeptualität nicht so aktiv ist. Du kannst alles loslassen. Du kannst dich einfach in die Empfindung dessen, was da ist, hinein entspannen.

Q Also trickst das Spiel uns teilweise aus der Illusion des Unerleuchtetseins aus? Wie kann dies das Ngöndro des Togal sein?

R Ist es nicht. Das Ngöndro des Togal ist wieder etwas anders. Du musst Trek-chod stabilisieren bzw. einige Stabilität in Trek-chod erreichen, bevor du dich dem Ngöndro des Togal zuwenden kannst.

Q Was würde stabiles Trek-chod bedeuten?

R Stabiles Trek-chod bedeutet, dass du in den Zustand von Rigpa eintreten kannst. Und dass es nicht bloß alle paar Jahre ein Zufallstreffer ist. Als erstes musst du Rigpa kennen. Du musst nicht kontinuierlich im Zustand von Rigpa sein, aber Rigpa muss eine Facette deiner Praxis sein. Wenn du nicht mit Rigpa vertraut bist, ist es unmöglich, Togal oder Togal Ngöndro zu praktizieren.

Q Was ist mit all den Menschen aus dem Westen, die ins Dunkelretreat gehen?

R Wer weiß… vielleicht kennen sie alle Rigpa… Ich könnte mir aber vorstellen, dass es für die meisten eine eher bedeutungslose Erfahrung darstellt. Wenn ich die äußeren Handlungen von einigen betrachte, die ins Dunkelretreat gegangen sind… Ich traf eine Frau in New York, die an einer Belehrung von mir teilnahm. Sie sagte mir, sie hätte gerade eine Woche im Dunkelretreat verbracht und meinte: „Mann, da kam ’ne Menge Zeug hoch.“

Q Was hast du ihr geantwortet?

R Ich sagte: „Ich wette, das tat es, das muss wirklich eine Erfahrung für dich gewesen sein“ [lacht]. Und sie sagte: „Oh ja, das war es wirklich“. Und ich sagte: „Nun, danke, dass du es mir erzählt hast.“ Es schien eher wirklich traurig. Wenn du auf der Ebene bist, auf dem eine Menge „Zeug“ hochkommt, solltest du eher einen Therapeuten aufsuchen als an einem Dunkelretreat teilzunehmen. Du kannst genauso gut sagen: „Ich hatte letzte Nacht Sex und es war wirklich schmerzhaft, ich saß da und habe meine Genitalien mit einem Fleischklopfer geschlagen…“ Was würdest du einer Person sagen, die so etwas sagen würde? Ich nehme an, du könntest sagen: „Ja, das muss wirklich eine Erfahrung gewesen sein!“ Ich möchte nicht negativ erscheinen im Hinblick auf Westler, die sich mit fortgeschrittenen Praktiken beschäftigen, weil ich glaube, dass wir mit ausreichender Übung wirklich in der Lage sind, so etwas zu machen. Aber warum Zeit damit verschwenden, im Dunkeln zu sitzen, bis du wirklich vorbereitet dafür bist?

Es ist manchmal fast schade, auch nur von diesen Praktiken zu wissen. Es ist weitaus inspirierender, wenn du dann zum ersten Mal von einer Praxis hörst, wenn Du wirklich bereit, bereit bist, sie auszuführen. Dann ist es sehr frisch! Dann gibt es eine authentische Erregung, die Belehrungen und Anweisungen das erste Mal zu hören. Dann könnte in ein Dunkelretreat zu gehen, tatsächlich etwas bedeuten. Aber wenn es alles ist, was du tust, bloß an diesen schwarzen Ort zu gehen und am Ende genauso neurotisch herauszukommen, wie du hineingegangen bist. Wenn du geschieden wirst und voll Bitterkeit über deinen Partner bist, oder du hast ein Problem mit jemandem und du brichst deswegen in Tränen aus… was hat dies mit stabilem Trek-chod zu tun? Wenn du Rigpa kennst, dann ist es unwahrscheinlich, emotional inkontinent zu sein. Das macht überhaupt keinen Sinn.

Q Meine Erfahrung ist, dass tibetische Lamas hoch erfreut sind, Leute aus dem Westen zu treffen, die bescheiden sind und nicht vorgeben, die höchsten Praktiken tun zu wollen.

R Ja… Aber andererseits möchte ich wirklich nicht dazu ermutigen, wiederum zu bescheiden zu sein. Zu bescheiden oder zu arrogant zu sein ist beides problematisch. Vielleicht ist es einfach gut zu sagen: „Ich bin ein Nyingmapa“. I wurde einmal gefragt, ob es Schüler gibt, mit denen ich nicht arbeiten könnte. Ich antwortete: „Leute, die erleuchtet werden wollen. Je mehr sie erleuchtet werden wollen, umso weniger kann ich mit ihnen arbeiten. Leute, mit denen ich arbeiten kann sind Leute, die Nyingmapas sein wollen – Leute, die offensichtlich ihre Erfahrung entwickeln wollen, aber sich nicht an einem schnellen Fortschritt aufhängen“. Ich denke, dies ist da wichtig, wo es darum geht, dass diese Lehren tatsächlich in die westliche Gesellschaft integriert werden können. Wenn wir eine Gruppe von Leuten werden, die besessen davon sind, exaltierte Zustände zu erreichen, dann wird der tibetische Buddhismus immer ein Kult sein. Das ist tatsächlich eines der Zeichen eines Kults: dass eine Gruppe von Leuten spezielle Erfahrungen hat, die andere Leute nicht haben.

Q Du erwähntest vorher schon den Wert, der darin liegt, einer Religion anzugehören; könntest du etwas mehr darüber sagen?

R Ein Mitglied einer Religion zu sein hat sehr gesunde Aspekte. Es kann auch Aspekte haben, die sehr ungesund sein könnten, aber ich denke nicht, dass ich viel darüber sagen muss, oder?

Q Nein, Rinpoche, Ich denke, die meisten Leute, die dies Interview lesen, werden eine klare Vorstellung davon haben.

R Gut… nun… vielleicht gut, wer weiß. Wie auch immer, einen religiösen Rahmen zu haben, bringt Sinn in deine Existenz. Es markiert Tageszeiten, Zeiten innerhalb der Woche, Zeiten innerhalb des Monats und des Jahres. Es gibt dir einen Namen, der eine Bedeutung hat. Es gibt dir eine Geschichte, zu der du in Beziehung treten kannst und die dir Perspektiven vermittelt, wo du bist und wie du ins Bild passt. Es unterstützt dich mit bedeutungsvollen und erfüllenden Aktivitäten, in denen du dich engagierst, entsprechend deinen Interessen, Fertigkeiten und Fähigkeiten. Dies sind alles Aspekte spiritueller Kultur, die emotionales Wohlbefinden im Menschen fördern. Dies sind alles Aspekte spiritueller Kultur, die ein Gefühl von Zugehörigkeit fördern. Nun sind dies keine letztendlichen Dinge [lacht] – sie sind nicht Dzogchen [Rinpoche akzentuiert das Wort auf eine eigentümliche Weise]…

Offensichtlich werden diese Dinge von einigen Leuten verspottet. Aber sie haben eine Funktion – und wichtig ist, dass man fähig ist, den Vorteil solcher Funktionen für die eigene Existenz wahrzunehmen. Ich habe festgestellt, dass Menschen, die beständig versuchen, so etwas wie einer letztendlichen Sichtweise anzuhängen, dazu tendieren deprimiert zu sein. Du könntest sagen: „Alles ist Gleich, es gibt keine Notwendigkeit für ein Symbol, es gibt keine Notwendigkeit für äußere Form“. Sicher ist das wahr: es gibt keine Notwendigkeit für ein Symbol – es sei denn, es besteht die Notwendigkeit für ein Symbol. Letztendlich gibt es keine Notwendigkeit für symbolische Praxis. Aber wenn du nicht wirklich Erfahrung aus dem letztendlichen Zustand heraus machst, dann musst du Erfahrungen auf der Ebene des Symbols machen; indem du ein Symbol deiner selbst bist. Wenn du unerleuchtet bist und du auf der Ebene des Dualismus lebst, bist du ein Symbol deiner selbst… in diesem Fall besteht die Notwendigkeit für symbolische Praxis.

Q Das ist das immer wiederkehrende westliche Argument: „Warum brauchen wir all dies Zeug?“ Ich habe das sehr oft gehört.

R Ja… Und die Antwort ist „Letztlich brauchst du es nicht… aber relativ gesehen brauchst du es“. Es geht einfach darum, ob du tatsächlich in der letztendlichen Position bist oder nicht. Wenn du es nicht bist, dann brauchst du die relativen Praktiken, die deiner relativen Verfassung entsprechen. Der Beweis dafür kann gefunden werden, indem man sich einfach Leute ansieht, die einem erzählen, dass sie nur Dzogchen praktizieren… Ich meine, wie sind solche Leute im Umgang mit anderen? Wie leben solche Leute? Sind sie heiter, locker, glücklich, zwischenmenschlich funktionierend, gut angepasste Leute? Oder… sind sie Leute, die eine Therapie bräuchten? Wenn jemand sagt „Ich bin ein Dzogchenpa“ und du siehst jemanden, die eine Therapie braucht; welchen Sinn macht das? Es macht für mich überhaupt keinen Sinn.

Q Die Dame, die ich vorhin erwähnte, die mich fragte, warum Dzogchen nicht öffentlich gelehrt werden könnte und dies ganze Zeug, sie ist tatsächlich jemand, der dazu tendiert, an ernsthaften Depressionen zu leiden. Sie hat vor nicht so langer Zeit sogar einen Selbstmordversuch unternommen.

R Das tut mir leid. Depression ist natürlich eine Buddhafamilien-Neurose. Eine Buddhafamilien-Neurose oder Raumelement-Neurose ist sehr intelligent. Sie ist sehr offen für die letztendliche Sicht… also ist das ganz verständlich. Bis die letztendliche Sicht mit deiner realen Erfahrung übereinstimmt, ist es bloß eine „letztendliche Sichtweise“ – und das ist in sich selbst deprimierend. Es ist deprimierend, weil du Dinge aufgibst, die auf einer relativen Ebene sehr hilfreich sein könnten.

Q Ich habe dich nach deinen eigenen Lehrmethoden gefragt und ich habe danach gefragt, was im Aro Gar vor sich ging – aber ich wollte dich auch danach fragen, wie Dzogchen übertragen wird. Was sind die verschiedenen Methoden, mit denen diese Lehren weitergegeben werden?

R Im Dzogchen sind die Methoden der Übertragung entweder mündlich, symbolisch oder direkt. Direkt bedeutet von Geist zu Geist.

Q Könntest du genau erklären, was von „Geist zu Geist“ bedeutet?

R Geist zu Geist Übertragung bedeutet, dass nichts auf einer wahrnehmbaren Ebene irgendeines der Sinnesfelder passieren muss.

Q Gedanken eingeschlossen?

R Gedanken eingeschlossen.

Q Also weißt du nicht unbedingt, dass es passiert, erst danach?

R Mmmm… sag mehr.

Q Nun… du könntest sagen: „Was war das?“ oder: „Was passierte gerade?“

R Ja… das ist möglich. Noch etwas?

Q Also ist es eine vollständig unbeschreibbare Erfahrung.

R Ja… Was könnte es noch sein?

Q Es ist eine Erfahrung ohne Inhalt… es ist etwas, was nicht konzeptualisiert ist und in jedem beliebigen Moment passiert… Geschieht es jetzt?

R Es ist, was es ist. Es ist, wie es sich selbst beschreibt: Geist zu Geist – Sem-nyid zu Sem-nyid – Natur des Geistes zu Natur des Geistes. [Pause] Natur des Geistes zu Natur des Geistes… Da gibt es Reflektion. Reflektion bedeutet augenblicklicher Funken von Gewahrsein. Es kann andauern. Es kann nicht andauern. Geist zu Geist Übertragung bedeutet, dass die Natur des Geistes des Lehrers und die Natur des Geistes des Schülers in diesem Moment identisch sind.

Q Und jeder Moment der Geist zu Geist Übertragung wäre identisch mit jedem anderen dieser Momente? Ist es jedes Mal, wenn es passiert, die gleiche Erfahrung?

R Ja. Es ist die gleiche Erfahrung, wann immer sie passiert – wem auch immer es passiert. Menschen können dies wohl auf verschiedene Weise ausdrücken, aber im Stil ihres Ausdrucks wird es immer etwas geben, das sich selbst jedem anderen mitteilt, der Übertragung erfahren hat.

Q Könntest du etwas darüber sagen, was bei der symbolischen Übertragung passiert?

R Symbolische Übertragung im Dzogchen kann in zwei Formen existieren. Es gibt die formale symbolische Übertragung und die informelle symbolische Übertragung. Die formale symbolische Übertragung hat mehr Verbindung mit mündlicher Übertragung und die informelle symbolische Übertragung hat mehr Verbindung mit der Geist zu Geist Übertragung. Also erschaffen diese beiden Arten symbolischer Übertragung eine Brücke zwischen mündlicher Übertragung und Geist zu Geist Übertragung. Im formalen Stil kann der Lehrer ein symbolisches Objekt hochhalten, so etwas wie einen Kristall oder einen Mé-long. Sagen wir, es ist ein Mélong. Der Lehrer würde den Mélong hochhalten und sagen: „Geist ist wie der Spiegel; seine natürliche Fähigkeit ist es zu spiegeln. Was immer im Spiegel erscheint, erscheint einfach – es kann die spiegelnde Qualität des Spiegels nicht bedingen. Aber wie kannst du den Spiegel sehen? Du siehst ihn durch die Kraft seiner Spiegelungen. Die Spiegelungen sind nicht der Spiegel, aber du kannst sie nicht vom Spiegel trennen. Die Spiegelungen sind nicht vom Spiegel trennbar“. Der Lehrer spricht also in dieser kryptischen Weise über den Spiegel. Wenn der Lehrer zu ausführlich über den Spiegel spräche, würde die Übertragung aufhören, symbolische Übertragung zu sein und mündliche Übertragung werden. Wenn der Lehrer eine Frage über den Spiegel beantworten würde, würde die Übertragung aufhören, symbolische Übertragung zu sein und mündliche Übertragung werden. Nur etwas sehr kurz und poetisch über den Spiegel zu sagen wird formale symbolische Übertragung genannt. Dann gibt es die informelle symbolische Übertragung, wie sie in einer Geschichte dargestellt wird, die ich oft erzähle, über Dza Paltrül Rinpoche und seinen Lehrer Do Khyentsé Yeshé Dorje und die Art, wie er Dza Paltrül Rinpoche auf den Boden warf und ihn an seinem Haar herumzerrt. Das ist „informelle symbolische Übertragung“… Das kann in allem vorhanden sein, was der Lehrer sagt oder tut.

Q Also ist es so, dass die aktuelle Übertragungserfahrung die gleiche ist wie die Geist zu Geist Erfahrung, aber es geschieht einfach eher durch etwas als durch nichts?

R Ja. So könntest Du das sagen.

Q In der formalen symbolischen Übertragung gibt es drei Symbole: es gibt den Spiegel, es gibt den geschliffenen Kristall und es gibt die Kristallkugel. Ich bekomme den Eindruck, dass sich diese Dreiergruppen überschneiden. Sind diese auch in der Art verbunden, wie die Dzogchen-Serien oder das Tsig Sum Né-dek verbunden sind?

R Ja. Das ist richtig.

Q Also sind auch sie nicht hierarchisch…

R Nein. Das ist richtig, sie sind auch nicht hierarchisch.

Q Und bei mündlicher Übertragung erfährt der Schüler im Prozess des Hörens der Erklärung, den Zustand, der erklärt wird?

R Ja. Und durch diese drei Methoden bekommst du nur ein größeres oder länger geöffnetes Fenster, in dem Übertragung auftreten kann.

Q Also ist mündliche Übertragung das weiteste Fenster?

R Ja… oder das am längsten dauernde.

Q Ich bekomme das Gefühl, dass weit geöffnete Fenster nicht unbedingt besser sind, aber sie wären vorzuziehen, um mehr Gelegenheit für eine Übertragung zu haben… Es scheint eine Art von Widerspruch darin zu geben, wie ich dies verstehe.

R Ja [lacht]. Es gibt einen Raum, in dem du Übertragung erfahren kannst und dieser Raum wird vom Lama geschaffen. Der Dzogchen Meister schafft die Möglichkeit, dass ein Riss im Gefüge dualistischer Wahrnehmung auftreten kann. Er oder sie ermöglicht das einfach durch da sein. Obwohl länger dauernde Gelegenheiten oder weitere Fenster eine größere Möglichkeit für erkennbare Übertragung darstellen; enthalten sie die Übertragung. Bei der direkten Übertragung enthält die Öffnung der wahrnehmbaren Übertragung nicht die Übertragung – die Übertragung ist in nichts enthalten und weitaus kraftvoller.

Betrachten wir die Formen der Übertragung noch ein wenig näher. Im Fall der mündlichen Übertragung könnte der Raum, in dem Übertragung auftreten kann, für die Dauer einer Erklärung anhalten – wie das graduelle Erscheinen eines Fensters. Wenn es eine weniger formale symbolische Übertragung ist, kann der Zeitraum, in welchem Übertragung stattfinden kann, für weniger als eine Minute andauern – wie ein momentanes Fenster, das bis zu dem Moment andauert, in dem du es beobachtest. Wenn es eine symbolische informelle Übertragung ist, ist der Zeitraum, in welchem Übertragung auftreten kann, nur ein Blitz, der in Relation zu einem bestimmten Ereignis auftritt – wie eine Art flackerndes Fenster, das unvorhersagbar auftaucht und verschwindet. Wenn es eine direkte Übertragung ist, dann ist es ein fensterloses Fenster. Du könntest auch sagen, das Konzept „Fenster“ hört einfach auf, gültig zu sein. Es wird zu einem weit ausgedehnten Fenster oder grenzenlosem Fenster. Wenn alles Fenster ist, gibt es keine Notwendigkeit für Fenster. Wenn du wahrnimmst, dass alles Fenster ist, gibt es keine weitere Notwendigkeit für Übertragung – die weite Ausdehnung von allem als Fenster wird in sich zu einer fortdauernden Übertragung.