Die Mutter Essenz Linie

Teil 2 – Ma-gÇig Labdrön and Jomo Menmo

von Ngak’chang Rinpoche

Sie wurde als psychotisch verleumdet, als eine verrückte Frau, die von einem Dämon besessen war. Nachdem nun mal bei dem männlichen, geistlichen und neidischen Teil der Bewohner Furcht ausgebrochen war, reagierten die gewöhnlichen Leute sehr empfindlich auf Pema Tsokyi. Sie verloren ihr natürliches Vertrauen in Pema Tsokyi. Sie waren unfähig, Vertrauen in ihre eigene spontane Hingebung zu haben. Der mönchische Konservatismus stigmatisierte sie als Dämonin. Die Leute begannen sie anzuklagen; sie erzählten, sie sei in den Bergen eingeschlafen und von einem Menmo besetzt worden – einem dämonischen weiblichen Wesen einer fremden Dimension. So wurde sie bekannt als Jomo Menmo – die Dämonische Lady.

Machig Lapdrön (Ma-gChig Lap-sGron) ‚Einzigartige Mutter Fackel der Praxis‘ war die Inkarnation von Yeshé Tsogyel. Machig Lapdrön war jene grosse Tibetische Yogini, welche die Praxis von Chöd begründete – die Visionäre Praxis des Durchschneidens der Bindung an die eigene körperliche Form (in Bezug auf die dualistische Neigung, die eigene körperliche Form als Referenzpunkt für die Existenz des eigenen Selbst zu betrachten). Machig Lapdrön ist genauso wie Yeshé Tsogyel in verschiedenen Texten, die überall erhältlich sind, sehr gut beschrieben. Normalerweise wird Jomo Menmo als Emanation von Yeshé Tsogyel angesehen, aber in der Mutter Essenz Linie ist sie die Inkarnation von Machig Lapdrön. Jomo Menmo ist dem westlichen Publikum nicht sehr gut bekannt, weshalb ich einen kurzen Abriss über ihr Leben geben will. Dieser wurde mir von Jétsunma Khandro Ten’dzin Drölkar mündlich überliefert. Jétsunma Khandro ist eine der grossen heutigen Yogini der Nyingma Schule, die als Freund und Mentor zu kennen ich seit 1975 das grosse Glück habe.

Jomo Menmo Pema Tsokyi (Jom-mo sMan-mo Padma mTsho-sKyid) wurde im Erdmännchen Affenjahr (1248 CE) geboren und wechselte in die Himmels-Region im Jahr 1283 CE. Sie wurde in der magischen Nähe jener Höhle geboren, in der sich einst Padmasambhava und Yeshé Tsogyel zusammen aufgehalten hatten. Der Ort hieß Zarmolung,in einem Gebiet Tibets gelegen, welches E-yül, das heißt ‚ursprüngliches Bewusstseinsland‘ genannt wird. Ihre Eltern nannten sie Pema Tsokyi, was ‚Lotus der Meere‘ bedeutet. Ihre Kindheit war relativ ereignislos und ihre Eltern waren ziemlich gewöhnliche Leute. Sie verbrachte ihre Kindheit mit all den im normalen Familienalltag anfallenden Arbeiten und sie half die Yaks und Dris zu hüten. Zu Beginn ihrer Pubertät (im Frühling 1261), als sie die Yaks auf einem hochgelegenen Weideland grasen ließ, fiel sie auf der Wiese in Schlaf. Diese alpine Wiese war überdacht vom Dewachen-Puk – der großen Ekstase-Höhle, in welcher Padmasambhava und Yeshé Tsogyel ihre Vollendung erlangt hatten. Der Ort wurde Kyungchen-ling genannt – Ort des großen Garuda. Der Garuda ist der ‚Raum-Adler‘, welcher durch seine Existenz den ungeborenen, nie endenden, immer präsenten Zustand der Erleuchtung verkörpert, welcher der fundamentale Grund der Dzogchen Lehren und Praktiken ist. Während sie schlief, hatte sie einen Klarheitstraum, in dem sie eine große Vision erlebte. Eine tiefe Stimme weckte sie aus ihrem unbewussten Traumzustand in einen Zustand reinster totaler Präsenz. Sie fand sich selbst stehend vor dem Eingang einer geheimen Höhle auf der Seite des Berges. Sie ging ohne zu zögern, getrieben durch ein starkes Interesse, in die Höhle hinein. Sie wusste nicht, was sie dort finden würde, aber sie war erfüllt von einem Gefühl des Betroffenseins, wobei weder Hoffnung noch Furcht eine Rolle spielten. Sobald sie in der Höhle war, erlebte sie eine Vision, in der sich Yeshé Tsogyel in einer atemberaubenden Vielfalt von Erscheinungsformen offenbarte. Diese Gestalten lösten sich ineinander auf, bis sie verschmolzen in die Form von Yeshé Tsogyel als Dorje Phagmo. Dorje Phagmo bedeutet ‚unzerstörbare Sau‘ oder ‚Donnerblitz-Sau‘. Dorje Phagmo ist die ekstatische wilde Dakini, deren Haupt gekrönt ist mit dem Kopf einer Sau und deren Schreie jede Illusion zerschmettern. Der Ton der Schreie vernichtet jedes Konzept und verlässt sich einzig auf die unmittelbare Bedeutung von Ro-chig – der einen Bedeutung von Leere und Form. In dem Moment, als sie Yeshé Tsogyel als Dorje Phagmo wahrnahm, wurde ein kompletter Belehrungs-Körper auf sie übertragen. Sie verstand dessen Bedeutung augenblicklich im Moment seines Erscheinens. Diese Belehrung nannte sich selbst ‚Die gesammelten Geheimnisse der Himmels-Tänzer‘. Sie erkannte, dass diese Belehrung etwas war, das sie in völliger Geheimhaltung praktizieren sollte, bis die Resultate erreicht sein würden. Sie wusste augenblicklich, dass es keine Hindernisse geben würde für die Erfüllung dieser Praktiken. Mit dem Heraufdämmern dieser Erkenntnis löste sich die Vision von Dorje Phagmo in Chö-nyi (Chos-nyid – Dharmata), die Sphäre der Realität, auf.

Pema Tsokyi erwachte aus dieser Vision und ging wieder an ihre alltägliche Arbeit. Aber wo immer sie sich auch aufhielt, gab sie Belehrungen als spontaner Ausdruck ihres Geistes, ihrer Stimme und ihres Körpers. Sie gab Geist-zu-Geist-Belehrungen als ein natürlicher Ausdruck ihrer Präsenz. Sie sang Unterweisungs-Gesänge als ein natürlichem Ausdruck ihrer Kommunikatio, und sie tanzte Vajra-Tanz als natürlichem Ausdruck ihrer Haltung. Dies hatte sowohl glückliche als auch unglückliche Konsequenzen. Viele gewöhnliche Leute wunderten sich über sie und erkannten, dass sie eine realisierte Yogini war; aber die geistliche Obrigkeit jenes Ortes brachte die Leute dazu, sich vor ihr zu fürchten. Sie wurde als psychotisch verleumdet, als eine verrückte Frau, die von einem Dämon besessen war. Nachdem nun mal bei dem männlichen, geistlichen und neidischen Teil der Bewohner Furcht ausgebrochen war, reagierten die gewöhnlichen Leute sehr empfindlich auf Pema Tsokyi. Sie verloren ihr natürliches Vertrauen in Pema Tsokyi. Sie waren unfähig, Vertrauen in ihre eigene spontane Hingebung zu haben. Der mönchische Konservatismus stigmatisierte sie als Dämonin. Die Leute begannen sie anzuklagen; sie erzählten, sie sei in den Bergen eingeschlafen und von einem Menmo besetzt worden – einem dämonischen weiblichen Wesen einer fremden Dimension. So wurde sie bekannt als Jomo Menmo – die Dämonische Lady.

Aufgrund dieser krankhaften Gefühle, welche die bigotte, geistig beschränkte Geistlichkeit ihr entgegen brachte, beschloss sie, Heimat und Familie zu verlassen und nie mehr in diese Gegend zurück zu kehren. Es scheint zwischen religiösen Ekstatikern und Weisheits-Exzentrikern ein immer wiederkehrendes Problem zu sein, dass letztere von religiösen Moralisten, Akademikern und Philosophen angegriffen werden. Jene, die einem hierarchischen Pfad folgen, empfinden es als äußerst bedrohlich, wenn ein einfaches Landmädchen über Nacht Realisation erfährt. Es ist oft der Fall, dass die ‚Nicht-Geschulten‘ einen besseren Zugang haben zur natürlich-geborenen Weisheit als jene, die lange Jahre studierten, um eben diese Weisheit zu finden. Es ist auch immer so, dass sich Männer, vor allem ‚geistliche‘ Männer, sehr bedroht fühlen durch weibliche Weisheits-Exzentriker. Für jene, die studieren, um Weisheit zu erlangen, ist es oft das Problem, dass sie heimlich gefangen werden durch konventionelle oder traditionelle religiöse Semantik, woraus dann gewöhnlich Bigotterie und Wut entsteht.

Nach einer Zeit des ekstatischen Wanderns erreichte sie einen Ort genannt La-yak-pang-drong im westlichen Teil von Lho-drak, wo sie einem großen Nyingma Visionär begegnete, dem gTértön (gTer-ston) Guru Rinpoche Chö-kyi Wang-Chuk (Gu-ru Rin-po-che Chos-kyi dBang-phyug). Guru Chö-wang (wie sein Name gewöhnlich gekürzt wird) war einer der fünf ganz grossen Nyingma Visionäre und eine der drei größten Emanationen von Padmasambhava. Sobald Guru Chö-wang Jomo Menmo sah, wusste er, dass sie die perfekte Sang-Yum für ihn war, die spirituelle Geföhrtin, mit der er seine Realisation zur Vollendung bringen konnte. Durch ihre Beziehung zu ihm war Jomo Menmo fähig, seine Raum-Nerven (tsa) von den feinen dualistischen Wirbeln und Strömen innerhalb der Raum-Winde (rLung) zu klären. Als dann sein tsa-lung-System in totaler Freiheit zu fließen begann, erkannte er, dass er fähig war, den Sinn eines jeden symbolischen Hinweises innerhalb der Visionären Belehrungen zu realisieren, die er zwar entdeckt hatte, aber bis dahin nicht hatte übersetzen können. (Das Allerinnerste Geheime Herz-Essenz-Tantra der Acht Zornvollen Bewusstseins-Wesen – bKa’a-brGyad gSang-ba yong-rDzogs man-ngak-gi rGyud chen-po). Sie verbrachten nur eine kurze Zeit zusammen, in der sie Gesänge der Realisation teilten und die essentiellen Anweiseungen ihrer individuellen Visionen austauschten.

Als Jomo Menmo beschloss, sich von Guru Chö-wang zu verabschieden, eröffnete er ihr, dass es nicht der richtige Zeitpunkt war, den Visionären Belehrungskörper, den sie von Yeshé Tsogyel erhalten hatte, zu veröffentlichen. Er sagte, es wäre besser, wenn ihre Visions-Belehrungen den Menschen einer späteren Zukunft zugute kommen würden. Er wies sie an, stattdessen durch Tibet zu reisen und den Menschen auf ‚geheime Weise‘ zu dienen. Die Menschen auf geheime Weise profitieren zu lassen ist eine besonders für Frauen geeignete Aktivität und beinhaltet keinerlei beschreibbare Methode. Geheime Aktivität kann jede menschliche Möglichkeit bedeuten und äußerlich unbemerkbar für jedermann sein, sogar für solche, die diesen Stil der Übermittlung und Belehrung kennen. Eine erleuchtete Frau (oder seltener ein erleuchteter Mann) kann mit dem Lebensstil einer ganz gewöhnlichen Person in Erscheinung treten ohne irgendwelche äußerlichen Zeichen der Vollendung, der Weisheit oder auch nur an Kenntnis. Solch eine Frau übt einen großen Einfluss aus, weil ihre Anwesenheit es bei den Menschen in ihrer Nähe bewirkt, dass der innewohnende Erleuchtungs-Zustand durch den Mantel ihrer dualistischen Konditionierung hindurchzuscheinen beginnt…

Auf ihren Wanderungen durch Tibet begegnete sie vielen Yogis, welche einfach nur durch die Begegnung mit ihr eine mächtige Realisation erfuhren. Der berühmteste unter ihnen war Ling-jé Répa (gLing-rJe ras-pa), welcher die gleiche tiefe Reinigung seiner Raum-Nerven erfuhr wie Guru Chö-wang.

Auf diese Weise verbrachte Jomo Menmo ihr Leben als eine wandernde Yogini, die das Leben der Menschen unumkehrbar veränderte, sobald sich diese zufällig in ihrer Gegenwart befanden. So erzeugte sie viele Übertragungslinien weiblicher Praktizierender. Zwei von ihnen erreichten mit ihr zusammen die Himmelsdimension zum Zeitpunkt ihres Verschwindens von der Welt. Im Alter von 36 Jahren erklomm sie die Spitze des Tak-lha-ri (Berg des Himmels-Tigers), und am 10. Tag des siebten Monats (4.8.1283) betrat sie zusammen mit ihren zwei weiblichen Schülern die Himmels-Dimension und wurde nie wieder gesehen. Ihre außergewöhnlichen Visions-Belehrungen kehrten zurück zum Geist von Yeshé Tsogyel und wurden später wiederentdeckt von Rig’dzin Pema Do-ngak Lingpa, welcher die Inkarnation von Guru Chö-wang war.